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Arachne, die mythologische Weberin, knüpfte höchst kunstfertige Teppiche. Leider konnte sie sich nicht verkneifen, Indiskretionen aus dem Leben der Olympier in ihrem web zu veröffentlichen, und wurde dafür von Athene in den Selbstmord durch Erhängen getrieben. Für sie als Unsterbliche bedeutete dies fortan ein Leben als Spinnentier.

Spinnen besitzen zwei Arten von Augen, die Haupt- und die Nebenaugen, deren Baupläne sich in einem sehr interessanten Detail unterscheiden: Das entwicklungsgeschichtlich frühere Konzept des Hauptauges ähnelt stark dem einer Kamera. Das Licht fällt gebündelt auf die Retina und projiziert dort ein Abbild der Außenwelt. Die einzelnen Zellen der Retina geben ihren jeweils empfangenen Reiz direkt nach hinten in die Nervenbahnen weiter, die sich zum Sehnerv bündeln, der diese bitmap zum Gehirn leitet. Bei vielen primitiveren Tieren finden wir diesen Bauplan, die höchst entwickelte Form dürfte das Auge des Oktopus sein.

Beim Nebenauge dagegen liegen die lichtempfindlichen sogenannten Rhabdomen vom Lichteinfall her hinter den Zellkernen statt davor. Sie empfangen also Licht, welches durch eine Schicht quasi gefiltert ist, welche direkt mit dem Sehvorgang wechselwirkt, einer Brille, gewebt aus aktiven Sehnerven. Das Nebenauge sieht sich sozusagen beim Sehen zu. Lange bevor die Reize das Gehirn erreichen findet hier eine Reflexion des Sehvorgangs statt, wird Information in schleifenförmigen Bahnen verarbeitet. Das Geflecht der Nervenbahnen bündelt sich sodann auch hier, und durchdringt als Sehnerv die Netzhaut an einer bestimmten Stelle, dem blinden Fleck, um das vorprozessierte Bild zum Gehirn weiterzuleiten. Dieses Konzept findet man bei den meisten höheren Lebewesen, auch beim Menschen. Bei der Spinne erklärt man sich das Vorhandensein beider Konzepte mit einer gewissen Arbeitsteilung: Das Hauptauge dient mehr dem Bewegungssehen, also einer unmittelbaren Kontrastverteilung, das Nebenauge der räumlichen Orientierung, somit einer sehr komplexen Kontrastverteilung.

Lassen Sie mich beide Konzepte mit einer topologischen Überlegung verknüpfen:

Gegeben sei in klassischen Sinne ein wahrnehmendes Subjekt, etwa die Spinne, und in dessen Umgebung die wahrzunehmende objektive Außenwelt. Die Schnittstelle zwischen beiden Polen, zwischen dem "innen" und "außen" des Wahrnehmungsvorgangs, somit alles, was tatsächlich wahrgenommen wird, ist sowohl in unserer Anschauung als auch aus logischer Notwendigkeit in ihrer allgemeinen Form zweidimensional. Nur dann stehen die einzelnen Reize, Bildpunkte etwa, zueinander in Beziehung. Bildflächen, Gesichtsfelder, die ein Subjekt so gewinnt, addieren sich schließlich zu einer Sphäre, als würde man mit einer Kamera in sämtliche Richtungen fotografieren, und dann alle Bilder zu einer Art Himmelsglobus zusammenkleben. Solcherart sphärisch ist das interface des Spinnenhauptauges, des primitiveren Augenkonzepts. Innen und außen sind dabei in solch durchgängiger Weise geschieden, daß diese Unterscheidung intrinsisch überhaupt nicht festzustellen ist. Das heißt, das Hauptauge vermittelt keinen Begriff von innen und außen. Ein solches Subjekt mag perfekt mit seiner Umgebung interagieren, doch ohne die geringste Reflexion darauf, zumindest soweit es den visuellen Bereich betrifft. Es hat keine Vorstellung von sich selbst, es hat überhaupt keine Vorstellung, und sein Verhalten ist automatisch.

Ganz anders das "Nebenaugensubjekt", etwa der Mensch. Sein Interface, gleichwohl flächig zweidimensional, ist keine Sphäre, die das Innere gänzlich gegen das Äußere abgrenzen würde. In einem bestimmten Moment der Evolution wurde es "umgestülpt" zur Kleinschen Flasche, einer in sich geschlossenen Fläche wie der Sphäre, doch ohne deren Orientierbarkeit. Das heißt, eine solche Fläche trennt ihre räumliche Umgebung nicht in zwei gesonderte Bereiche. Sie unterscheidet nicht global zwischen innen und außen. Wollten zwei Maler sie auf der einen Seite rot , auf der anderen blau anstreichen, so kämen sie sich unweigerlich ins Gehege, wie man das auch vom Möbiusband her kennt. In dreidimensional räumlicher Einbettung hat die Kleinsche Flasche eine ringförmige Zone der Selbstdurchdringung, die topologisch ohne Belang, jedoch als ihr "blinder Fleck" interpretierbar ist.
Der entwicklungsgeschichtliche Schritt der Umstülpung nun hat der Wahrnehmung - unserer Wahrnehmung - die Kontingenz von innen und außen beschert, den klaffenden Widerspruch der Selbstbeobachtung, dem phenomene humaine, auf dem unsere Erkenntnis gründet. Dieser Widerspruch ist zugleich die Bedingung als auch die größte Zumutung für unseren Verstand. Er ist das Fundierungsparadoxon des Bewußtseins.

Peter Angermann 1999